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Behauptung eines von der Zugangsvermutung abweichenden Zugangszeitpunkts (Kommentar von Udo Cremer)

27.08.2019  — Udo Cremer.  Quelle: Verlag Dashöfer GmbH.

Auch diese Woche kommentiert unser Fachmann Udo Cremer wieder ein relevantes Urteil (BFH Beschluss vom 22.5.2019, X B 109/18) für Sie. Es geht um den Zugang des Bescheids an den Steuerpflichtigen und den Nachweis eines vom vermuteten Zeitraum abweichenden Zugangs.

Bestreitet der Steuerpflichtige den Zugang des Bescheids innerhalb des gesetzlich vermuteten Zeitraums, muss er substantiiert Tatsachen vortragen, die schlüssig auf einen späteren Zugang hindeuten und deshalb Zweifel am Zugang zum gesetzlich vermuteten Zeitpunkt begründen.

Der Kläger erzielte im Streitjahr 2015 gewerbliche Einkünfte. Nach einer Umsatzsteuersonderprüfung erließ das FA für das Streitjahr geänderte Feststellungs- und Umsatzsteuerbescheide sowie einen geänderten Bescheid über den Gewerbesteuermessbetrag. Die hiergegen gerichteten Einsprüche wies das FA zurück. Ausweislich der Verfügungen des FA sind die Einspruchsentscheidungen am Mittwoch, den 20. September 2017, mit einfachem Brief zur Post aufgegeben worden. Mit der Versendung wurde ein privater Postdienstleister beauftragt, der sich im Zustellgebiet des damaligen Bevollmächtigten des Klägers (B) der Zustellung durch die Deutsche Post AG bediente. Der Kläger hat am 26. Oktober 2017 per Telefax Klage erhoben. Dieser Klage beigefügt waren Faxprotokolle, wonach die Übersendung der Klageschrift per Telefax am 25. Oktober 2017 ohne Antwort geblieben sei. Eine ebenfalls an diesem Tag übersandte verschlüsselte E-Mail des B enthielt die Klageschrift im Anhang trotz eines gegenteiligen Hinweises im Betreff nicht. In der Klageschrift wurde darauf hingewiesen, dass die Einspruchsentscheidungen dem B am 26. September 2017 zugegangen seien. Die zur Gerichtsakte eingereichten Ablichtungen der Einspruchsentscheidungen weisen als Eingangsstempel das Datum des 26. September 2017 aus. Das FG verwarf die Klage als unzulässig, da aus seiner Sicht die Klagefrist nicht gewahrt worden sei.

Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (BFH Beschluss vom 22.5.2019, X B 109/18). Das FG hat gegen den klaren Inhalt der Akten nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO verstoßen, indem es Hinweise in der Klageschrift vom 25. Oktober 2017, wonach die Einspruchsentscheidungen erst am 26. September 2017 zugegangen seien, nicht gewürdigt hat, obwohl hierzu Anlass bestand. Zudem liegt der vom Kläger geltend gemachte Verfahrensmangel, das FG habe den Postlauf der Briefe mit den Einspruchsentscheidungen weiter aufklären müssen, aufgrund der besonderen Umstände des Streitfalls vor. Die Entscheidung kann jeweils auf diesen Verfahrensmängeln beruhen.

Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Zum Gesamtergebnis des Verfahrens gehört auch die Auswertung des Inhalts der dem Gericht vorliegenden Akten. Ein Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten liegt insbesondere dann vor, wenn das FG eine nach Aktenlage feststehende Tatsache, die richtigerweise in die Beweiswürdigung hätte einfließen müssen, unberücksichtigt lässt oder seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde legt, der dem protokollierten Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall gegeben. Aus zwei in den Akten enthaltenen Faxprotokollen ergibt sich zweifelsfrei, dass B versucht hat, die Klageschrift per Telefax am 25. Oktober 2017 zu übersenden. Bereits zu diesem Zeitpunkt, als B davon ausgehen konnte, dass die Klageschrift fristgerecht am 25. Oktober 2017 beim FG eingeht, wurde in der Klageschrift darauf hingewiesen, dass die Einspruchsentscheidungen B (erst) am 26. September 2017 zugegangen seien.

Zu diesem Zeitpunkt bestand kein Anlass, hinsichtlich der Einspruchsentscheidungen ein nicht korrektes Zugangsdatum anzugeben. Diese Tatsache hätte das FG in seine Würdigung, ob Zweifel an der Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO bestehen, miteinbeziehen müssen. Es hat jedoch diesen Umstand unberücksichtigt gelassen und ausschließlich darauf abgestellt, dass der Kläger keinen Briefumschlag mit Poststempel vorgelegt hat. Das angefochtene Urteil kann auch auf diesem Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten beruhen. Hätte das FG den Umstand berücksichtigt, dass der Kläger bereits mit versuchter Übersendung der Klageschrift am 25. Oktober 2017 darauf hingewiesen hat, dass die Einspruchsentscheidungen erst am 26. September 2017 zugegangen seien, wäre es möglicherweise im Rahmen seiner Würdigung zu dem Ergebnis gelangt, dass die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO im Streitfall erschüttert ist. Wären die Einspruchsentscheidungen (wie vom Kläger vorgetragen) am 26. September 2017 bekannt gegeben worden, hätte er entgegen der Entscheidung des FG fristgerecht Klage erhoben.

Das FG hat ferner seine von Amts wegen bestehende Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung verletzt, weil es nicht abschließend aufgeklärt hat, ob der Briefumschlag mit den Einspruchsentscheidungen erst am 26. September 2017 bei B eingegangen ist. Zwar hat der Kläger den Briefumschlag nicht vorgelegt, doch vermag der Senat nicht nachzuvollziehen, warum der Eingangsstempel auf den Einspruchsentscheidungen und die Eintragungen in ein als revisionssicher beschriebenes DATEV-System bei deren Eingang, (gerade) auch in Verbindung mit der unstreitig bereits am 25. Oktober 2017 versuchten Übermittlung der Klageschrift, ohne weitere Aufklärung des Sachverhalts nicht geeignet sein soll, Zweifel am Zugang innerhalb der Dreitagesfrist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO (i.V.m. § 365 Abs. 1 AO) zu begründen.

Soweit das FG auf die Vorlage des Briefumschlages bestanden hat, hat es unter Anwendung der höchstrichterlichen Rechtsprechung seine Zweifel daran ausschließen wollen, dass B (erst) nachträglich den Eingangsstempel mit dem Datum des 26. September 2017 auf den Einspruchsentscheidungen angebracht hat. Unabhängig davon, dass der Briefumschlag zunächst einmal nur den Abgang der Schreiben am 20. September 2017 dokumentieren kann, sind im hier zu entscheidenden Rechtsstreit die weiteren Umstände der Organisation des Posteingangs bei B zu beachten. Diese sind, da sie nicht von vornherein auf eine Manipulation ausgerichtet sind, jedenfalls grundsätzlich nicht ungeeignet, das Datum des Eingangsstempels zu bestätigen. Dafür kann außerdem sprechen, dass B versuchte, die Klage nicht am letzten Tag der von ihm berechneten Klagefrist einzureichen, sondern (ggf. aus Gründen der prozessualen Vorsicht) am Vortag. Ohne weitere Sachaufklärung der Art der Bearbeitung des Posteingangs bei B von einem verspäteten oder gar nachträglichen Anbringen des Poststempels auszugehen, ggf. aufgrund eines organisatorischen Versehens auf Empfängerseite, erscheint hier weder zwingend noch wird es der Struktur der Zugangsregelung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO gerecht. Das FG hat folglich, etwa durch Vernehmung der für den Posteingang zuständigen Mitarbeiter von B, den typischen und, soweit noch möglich, tatsächlichen Geschehensablauf dort bei Eingang von Verwaltungsakten der Finanzbehörde aufzuklären.

Die Frage, wie der Posteingang bei B bearbeitet wurde, ist im Streitfall entscheidungserheblich. Denn wären die Einspruchsentscheidungen an dem Tag, an dem der Eingangsstempel auf ihnen angebracht worden ist, in ein revisionssicheres elektronisches Erfassungssystem eingegeben worden, wäre von einem Eingang an diesem Tag auszugehen. Folglich wären die Einspruchsentscheidungen am 26. September 2017 bekannt gegeben worden. Die Klagefrist wäre gemäß § 47 Abs. 1 Satz 1 FGO am Donnerstag, dem 26. Oktober 2017 abgelaufen. Die vom Kläger per Faxschreiben an diesem Tag eingelegte Klage wäre fristgerecht. Ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht liegt aber trotz einer ggf. unterlassenen Rüge vor, wenn das FG eine konkrete Möglichkeit, den von seinem Rechtsstandpunkt aus entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären, nicht genutzt hat, obwohl sich ihm die Notwendigkeit der weiteren Aufklärung auch ohne Antrag nach Lage der Akten und dem Ergebnis der Verhandlung hätte aufdrängen müssen. Ein solcher Fall liegt jedenfalls dann vor, wenn das FG wie hier die näheren Umstände des Posteingangs im Fall eines revisionssicheren Erfassungsverfahrens nicht weiter aufklärt, sondern lediglich von einem Versehen des Prozessbevollmächtigen ausgeht.

Für das weitere Verfahren weist der Senat daraufhin, dass zwar der Abgang des Briefumschlags mit den Einspruchsentscheidungen wie vom Vertreter des FA beschrieben, am Tag, der als Postabgang vermerkt worden ist, feststehen kann, dies aber nicht automatisch dazu führt, dass die Bekanntgabe beim Empfänger zwingend innerhalb der Dreitagesfrist nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO geschehen sein muss, wenn jedenfalls ein privater Postzusteller in den Zustellvorgang eingebunden worden ist. Zwar ist das FG (auch im zweiten Rechtsgang) in seiner Beweiswürdigung frei. Es muss dabei aber jedenfalls die gesetzlichen Regelungen über die Verteilung der Feststellungslast erkennen lassen. Hierzu ordnet § 122 Abs. 2 Halbsatz 2 AO an, dass im Zweifel die Behörde den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen hat.

Bestreitet der Steuerpflichtige nicht den Zugang des Schriftstücks überhaupt, sondern behauptet er lediglich, es nicht innerhalb des Dreitageszeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO erhalten zu haben, hat er sein Vorbringen im Rahmen des Möglichen zu substantiieren, um Zweifel an der Dreitagesvermutung zu begründen. Er muss Tatsachen vortragen, die den Schluss zulassen, dass ein anderer Geschehensablauf als der typische (Zugang binnen dreier Tage nach Aufgabe zur Post) ernstlich in Betracht zu ziehen ist. Es genügt nicht schon einfaches Bestreiten, um die gesetzliche Vermutung über den Zeitpunkt des Zugangs des Schriftstücks zu entkräften. Es müssen vielmehr Zweifel berechtigt sein, sei es nach den Umständen des Falles, sei es nach dem schlüssigen oder jedenfalls vernünftig begründeten Vorbringen des Steuerpflichtigen. Das Erfordernis eines substantiierten Tatsachenvortrags darf allerdings nicht dazu führen, dass die Regelung über die objektive Beweislast, die nach dem Gesetz die Behörde trifft, zu Lasten des Steuerpflichtigen umgekehrt wird. Das FG hat sodann "nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung" die Frage zu beantworten, ob "Zweifel" daran bestehen, dass die Einspruchsentscheidungen innerhalb der Dreitagesfrist zugegangen sind oder nicht. Ist trotz Sachaufklärung keine Überzeugungsbildung möglich, muss auf die Beweislastregel des § 122 Abs. 2 Halbsatz 2 AO zurückgegriffen werden.

Der Autor:

Udo Cremer

Udo Cremer ist geprüfter Bilanzbuchhalter (IHK) und hat die Steuer­beraterprüfung mit Erfolg abgelegt. Er ist als Dozent für Steuer- und Wirtschaftsrecht tätig und veröffentlicht seit mehreren Jahren praxis­orientierte Fachbücher zu den Themen Buchführung, Kostenrechnung, Preiskalkulation, Kennzahlen, Jahresabschluss und Steuerrecht. Daneben wirkt er als Autor an zahlreichen Fachzeitschriften und Loseblatt­sammlungen im Bereich der Buchhaltung und des Steuerrechts mit.

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