Nichts ist beständiger als der Wandel – 30 Jahre Gleichstellungspolitik an niedersächsischen HochschulenTitel meines Vortrags an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hildesheim/Holzminden/Göttingen am 07. November 2022 zum Jubiläum 30 Jahre Gleichstellungsbüro an der HAWK

30.11.2023  — Von Barbara Hartung. Quelle: Verlag Dashöfer GmbH

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Barbara Hartung: »Nichts ist beständiger als der Wandel – 30 Jahre Gleichstellungspolitik an niedersächsischen Hochschulen« (In: Rechtshandbuch für Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte, hrsg. von Dr. Sabine BerghahnUlrike Schultz, Auflage 88, Hamburg: Verlag Dashöfer 2023, Abschn. 8.3)

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30 Jahre Gleichstellungspolitik – das scheint im Rückblick eine lange Zeit: eine Zeit, die vielfach mit „einer Generation“ umschrieben wird. Eine Generation, rechnerisch, die aber altersmäßig von Frauen aus anderen Generationen begleitet, auch überlagert wurde. So hat sich Welle um Welle aufgebaut, um insbesondere die Hochschulen zu durchspülen. Besonders nötig hatten dies anfangs die Universitäten, die „zurückgebliebensten aller Provinzen“.Jutta Limbach, Der aufhaltsame Aufstieg der Frauen in der Wissenschaft, Berlin 1994, S. 3. Abgerufen am 28. Februar 2023 unter https://www.fu-berlin.de/presse/publikationen/_media/juttaLimbach1.pdf Die Anfang der 70er Jahre gegründeten – und noch nicht durch verfestigte Strukturen und Traditionen belasteteten – Fachhochschulen erschienen offener, nicht mit dem „Muff von 1000 Jahren unter den Talaren“https://de.wikipedia.org/wiki/Unter_den_Talaren_%E2%80%93_Muff_von_1000_Jahren behaftet. Zudem trug ihre Orientierung auf die Praxis, auf die angewandten Wissenschaften, zu einer größeren Realitätsnähe bei.

In den 80er Jahren wurden vielerorts – so auch in Niedersachsen – „Arbeitskreise von Wissenschaftlerinnen“ gegründet, die mit ihren Forderungen schließlich bei der Politik Gehör fanden. In Niedersachsen hat die rot-grüne Landesregierung seit 1990 hier deutliche Akzente gesetzt. Mit dem Haushalt 1992 wurden Mittel für die Ausstattung der Frauenbeauftragten und der Frauenbüros zur Verfügung gestellt. Das 1994 verabschiedete Niedersächsische Hochschulgesetz (NHG) bildete dann auch einen verlässlichen rechtlichen Rahmen. So konnten tragfähige Arbeitsstrukturen geschaffen werden, die sich kontinuierlich weiterentwickelten. Von den Kolleginnen aus anderen Bundesländern wurde Niedersachsen gerne als Benchmark verwendet.

Der Ansatz der Frauenförderung wurde dann überrollt von den Wellen Gleichstellung, Chancengleichheit, Gender Mainstreaming und schließlich Diversity. Die dahinter liegenden Konzepte sollen im Folgenden näher betrachtet werden.

1) Die Konzepte der Gleichstellungspolitik

Dem Konzept der Frauenförderung lag die Annahme zugrunde, Frauen wiesen Defizite auf, die es durch „Nachhilfe“ zu beheben gelte, um sie zu befähigen, in das System Hochschule eintreten zu können, also „hoffähig“ zu werden. Der Blick richtete sich auf die Frauen; die Frauenbeauftragte verstand sich vornehmlich als Anwältin der Frauen. Die Zuständigkeit für Frauenförderung wurde den Frauenbeauftragten zugewiesen. So wichtig die unter diesem Blickwinkel aufgelegten Programme – z. B. Mentoring – auch für die Frauen in ihrer jeweils individuellen Entwicklung waren, so haben sie doch an der strukturell bedingten Unterrepräsentanz nur wenig ändern können.

Gleichstellung fokussiert die Überwindung juristischer und struktureller Barrieren, und setzt mit spezifischen Maßnahmen gezielt bei den „Stolpersteinen“ an. Gleichstellung ist eine kontinuierliche, auf Ausgleich gerichtete Aufgabe. Besonderen Nachdruck erhielt dieses Konzept mit der Ausgestaltung des Gleichstellungsauftrags durch die Verfassungsreform 1994. Neben den bisherigen Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ trat nun Satz 2: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“

Dadurch ist klar gestellt worden, dass auch spezifische, begünstigende Maßnahmen und Regelungen zulässig sind. Es setzte sich die (in der Mathematik weit verbreitete) Erkenntnis durch, dass eine Ungleichung nicht durch Gleichbehandlung zu lösen ist.

Bei der Novellierung des NHG 2002 wurde dann der Begriff „Gleichstellungsbeauftragte“ eingeführt, später dann die Hauptberuflichkeit, mit einer Verlängerung der Wahlperioden. Diese Rahmenbedingungen sicherten eine professionelle, nachhaltige Wahrnehmung der Aufgaben.

Strukturelle Chancengleichheit zielt auf die Gestaltung von Strukturen, die für beide Geschlechter die optimalen Möglichkeiten zur Entfaltung ihrer jeweiligen (individuellen) Potentiale bieten, unabhängig von Rollenmustern und – zuschreibungen, also ohne gender bias.

Nach der Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 wurde mit dem Ansatz des „Gender Mainstreaming“ der Blick zunehmend auf die Inhalte und Strukturen der Politiken gelenkt. Gender, verstanden als „soziales Geschlecht“ (im Gegensatz zu „sex“ als biologischem Geschlecht), dient als Analysekategorie, um systematisch alle Vorhaben, Maßnahmen und Konzepte daraufhin zu überprüfen, ob sie die – möglicherweise unterschiedlichen – Bedürfnisse und Interessenlagen von Frauen und Männern hinreichend berücksichtigen. Gefragt ist also die Integration einer geschlechtersensiblen Sichtweise.

Strukturelle Chancengleichheit und Gender Mainstreaming weisen die Verantwortung für die Umsetzung entsprechender Maßnahmen ganz klar der Führungsebene zu (sog. Top-Down-Ansatz) und der jeweiligen Institution als Ganzer. Damit wird in den Blickpunkt gerückt, dass Hochschulen von Menschen gestaltete Institutionen mit veränderbaren Strukturen sind.

Seit mehreren Jahren gewinnt der Begriff „Diversity“ zunehmende Bedeutung. Er intendiert die Berücksichtigung der Interessen von Menschen mit unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlichen Geschlechtes, unterschiedlicher sexueller Orientierung, unterschiedlichen Alters, mit Behinderung etc. Das dahinterstehende verfassungsrechtliche Konzept ist das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG („Niemand darf wegen… benachteiligt oder bevorzugt werden“.), das nicht nur für den öffentlich-rechtlichen Bereich gilt, sondern im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz spezifisch, d. h. auch für den privatrechtlichen Bereich, also das Verhalten der BürgerInnen untereinander, umgesetzt ist.

Die „Diversity-Debatte“ hat eine neue Dynamik ausgelöst, von den Gleichstellungsbeauftragten oftmals mit Zurückhaltung betrachtet, da sie befürchten, die Aspekte der Gleichstellung würden in dieser allgemeinen und mit vielen Facetten versehenen Debatte untergehen. Eine Chance liegt darin, dass sich der Blick über eher eindimensional ausgerichtete Bewertungsmuster und Zuschreibungen (Mann vs. Frau; alt vs. jung etc.) weiten kann. Die Vielzahl der individuellen Parameter und ihre Kombinationen bedingt eine wertschätzende Ausrichtung auf individuelle Fähigkeiten und Potentiale.So wurde z. B. das Gleichstellungsbüro an der Universität Hannover 2016 umbenannt in „Büro für Chancenvielfalt“.

Zu achten ist allerdings darauf, dass im Rahmen der Diversität die Diversifizierung nicht zu einer Zerfaserung in immer kleinere Grüppchen führt. Vielmehr gilt: „Alles stärken, was uns verbindet“.So Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede bei der Deutschen Nationalstiftung am 28. Oktober 2022. https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2022/10/221028-Alles-staerken-was-uns-verbindet.html

Der Blick der Gleichstellungsbeauftragten sollte sich fokussieren auf die Umsetzung des Gleichstellungsauftrags aus Art. 3 Abs. 2, der sich entsprechend auch in der Niedersächsischen Verfassung findet und in das Niedersächsische Gleichstellungsgesetz (NGG), das Niedersächsische Hochschulgesetz (NHG) und die Kommunalverfassung Niedersachsen transponiert wurde. Mit diesem Auftrag, der ein aktives Handeln des Staates fordert, werden die (quantitativ größten) Gruppen von Frauen und Männern adressiert. Neben den allgemeinen strukturellen Barrieren sind dann auch spezifisch solche für Frauen mit Migrationshintergrund, mit Behinderung usw. in den Blick zu nehmen.

Art. 3 Abs. 2 GG ist ein Versprechen, dessen Erfüllung tagtäglich wieder eingefordert werden muss. Das Fordern ist Aufgabe der Gleichstellungsbeauftragten; das Versprechen zu erfüllen, liegt in der Verantwortung der staatlichen Institutionen – hier der Hochschulen – und insbesondere der Führungsverantwortlichen, von Männern und Frauen.

Neben diesem verfassungsrechtlichen Aspekt der Gerechtigkeit hat die EU bereits in den 90er Jahren betont, dass die Unterrepräsentanz von Frauen ein Demokratiedefizit ist.

Im Zuge der fortschreitenden Ökonomisierung der Hochschulen entwickelten sich auch in der Gleichstellungsdebatte neue Argumente: Frauen wurden als „Potential“ entdeckt; auch wird überlegt, wie der „return on investment“ (in die Ausbildung, Qualifizierung bis zu Habilitation) aussieht, wenn Frauen danach die Hochschulen verlassen. Der Vorteil dieser Betrachtungsweise ist, dass Frauen aus der Rolle der Bittstellerin, der Empfängerin patriarchal großzügig gewährter Leistungen befreit und nunmehr als „Aktivposten“ gehandelt werden.

Soweit die Wellenbewegungen der Konzepte. Wie haben sie sich nun in konkrete Gleichstellungspolitik auf Bundes- sowie Landesebene übersetzt?

2) Konkrete Gleichstellungspolitik an Hochschulen in Niedersachsen

Wesentliche Impulsgeber für Veränderungen waren in Niedersachsen die Berichte „Frauenförderung ist Hochschulreform, Frauenforschung ist Wissenschaftskritik“Bericht der Niedersächsischen Kommission zur Förderung von Frauenforschung und zur Förderung von Frauen in Lehre und Forschung. Hrsg. Nds. Ministerium für Wissenschaft und Kultur, Hannover 1994. sowie „Berichte aus der Frauenforschung: Perspektiven für Naturwissenschaft, Technik und Medizin“.Bericht der Niedersächsischen Kommission zur Förderung der Frauenforschung in Naturwissenschaften, Technik, und Medizin. Hrsg. Nds. Ministerium für Wissenschaft und Kultur. Hannover 1997. Diese Berichte bildeten die Grundlage für die Politik der folgenden Jahre.

So wurden spezifische, auf die kritischen Phasen in der Hochschullaufbahn ausgerichtete Programme gestartet: Das Dorothea-Erxleben Programm zur Qualifizierung für eine Professur bot Frauen an den Universitäten die Möglichkeit, sich auf 2/3-Stellen nach der Promotion weiter zu qualifizieren; an Fachhochschulen konnte die Promotion nachgeholt werden, und an künstlerischen Hochschulen wurden die jeweils für die Entwicklung zur Professorin notwendigen Schritte unterstützt.

In Kooperation der Landeskonferenz der Frauenbeauftragten, der Landeshochschulkonferenz und des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur (MWK) haben die von ihnen eingerichtete „Ständige Arbeitsgruppe Frauenförderung“ und (nachfolgend) der „Arbeitskreis Chancengleichheit“ eine Reihe von Empfehlungen beschlossen, die nach und nach umgesetzt wurden. So fanden die 1996 verabschiedeten Empfehlungen zu Berufungsverfahren auch Eingang in eine entsprechende Empfehlung der Wissenschaftlichen Kommission Niedersachsen – immerhin schon 2005.Empfehlungen zur Qualitätssicherung von Berufungsverfahren in Universitäten und Hochschulen:https://www.wk.niedersachsen.de/publikationen/empfehlungen_wissenschaftspolitische_themen/publikationen-empfehlungen-wissenschaftspolitische-themen-72397.html Dieses trilaterale Gesprächsformat wurde mit der 2007 gestarteten Dialoginitiative „Gleichstellung als Element des Qualitätsmanagements“,https://www.mwk.niedersachsen.de/startseite/hochschulen/gleichstellung/dialoginitiative/dialoginitiative-18753.html später umbenannt in „Geschlechtergerechte Hochschulkultur“https://www.mwk.niedersachsen.de/zablage_alte_knotenpunkte/themen/gleichstellung/dialoginitiative/dialoginitiative-144282.html bis heute erfolgreich fortgesetzt.https://www.lakog-niedersachsen.de/dialoginitiative/aktuelles Ziel ist die nachhaltige Weiterentwicklung der Organisations- und Führungskultur auf allen Ebenen der Hochschulen. Um vom Wissen zum Handeln zu gelangen, wurden – im zielgerichteten Dialog zwischen Hochschulleitungen, Dekan*innen, Gleichstellungsbeauftragten und dem Ministerium konkrete Handlungsempfehlungen erarbeitet, auf deren Umsetzung sich alle Beteiligten verpflichteten.

Auf Bundesebene waren die Empfehlungen des Wissenschaftsrats zur Chancengleichheit (1998)https://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/3534-98.pdf?__blob=publicationFile&v=3 wegweisend, der „sich selbst tragende Prozesse wachsender Beteiligung von Frauen“ anstrebte. Leider hat der Wissenschaftsrat im Folgenden seine eigenen Empfehlungen bei weiteren Veröffentlichungen und Programmen nicht wirklich beachtet.

Eine besondere Dynamik entfaltete die 2005 gestartete Exzellenzinitiative: Die ausländischen Gutachterinnen und Gutachter bezeichneten im Rahmen der ersten Antragsrunde die Ausführungen der Hochschulen zum Thema Gleichstellung als „unzureichend“. Sie hatten den Eindruck, vielfach werde Gleichstellung an deutschen Hochschulen nur als Lippenbekenntnis absolviert. Da ging ein gewisser Ruck durch die deutsche Wissenschaftslandschaft. In Folge wurde das Professorinnenprogramm des Bundesministeriums für Bildung und Forschunghttps://www.bmbf.de/bmbf/de/forschung/gleichstellung-und-vielfalt-im-wissenschaftssystem/frauen-im-wissenschaftssystem/das-professorinnenprogramm.html aufgelegt, die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) verabschiedete die „Forschungsorientierten Gleichstellungsstandards“,https://www.dfg.de/foerderung/grundlagen_rahmenbedingungen/chancengleichheit/allg_informationen/gleichstellungsstandards/ und die Allianz der Wissenschaftsorganisationen startete die „Offensive Chancengleichheit“.https://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/2218-12.pdf?__blob=publicationFile&v=3

Mit Exzellenzinitiative und Professorinnenprogramm war nun ein Hebel angesetzt, der Wirksamkeit versprach: es ging um Geld, um viel Geld, und um die Reputation der Hochschulen, vor allem der Universitäten, wurden doch die Rankings bei den Gleichstellungsstandards veröffentlicht und auch bei der Bewertung der Anträge der Exzellenzinitiative einbezogen.

Niedersachsen war beim Professorinnenprogramm in allen Runden sehr erfolgreich – eine Spätfolge der guten strukturellen Ausstattung der Gleichstellungsbeauftragten, und ihrer kompetenten und ausdauernden Arbeit in den Hochschulen.

3) Die Situation der Wissenschaftlerinnen bundesweit

Wie hat sich nun die Situation insgesamt auf Bundesebene geändert, in den letzten 30 Jahren? Anhand der DatenChancengleichheit in Wissenschaft und Forschung. 26. Fortschreibung des Datenmaterials (2020/2021) zu Frauen in Hochschulen und außerhochschulischen Forschungseinrichtungen. Materialien der GWK, Heft 82. Bonn 2022. lässt sich vermuten, dass einige Löcher in der sog. „Leaky pipeline“ kleiner geworden sind. So ist der Frauenanteil gestiegen bei den

Promotionen von 31,5 auf 45,1 %

Habilitationen von 13,8 auf 35,1 %

C3/W2-Professuren von 8,7 auf 27,1 %

C4/W3-Professuren von 4,7 auf 22,0 %

Das sieht fast nach Springflut aus, aber eben nur fast, da die Entwicklung zwischen 1995 und 2020 abgebildet ist. Die Wachstumsraten bewegen sich zwischen 0.64 und 0.77 Prozentpunkten pro Jahr. Im Bereich der Wirtschaft würde bei diesen Werten der Weltuntergang beschworen werden.

Bei den Professorinnen (ohne Juniorprofessorinnen) würde – ausgehend von einem Anteil von derzeit rd. 25 % und „Wachstums“-raten von 0,77 (W2) bzw. 0,66 (W3) Prozentpunkten – etwa im Jahr 2050 eine Repräsentanz von 50 % erreicht.

Eine deutliche Akzelerierung des Veränderungsprozesses ist folglich dringend geboten.

Denn es geht nicht (nur) um Zahlen, um Repräsentanz, es geht um mehr: um Macht, Gestaltungsmacht, Entscheidungsmacht.

4) Der Gender Pay-Gap an Hochschulen

Deshalb noch einmal zurück zu dem Stichwort „Geld“:

Eine Untersuchung des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur (2016) zu möglichen Differenzen bei der Vergabe von Leistungsbezügen an Hochschulen in Niedersachsen löste eine lebhafte Diskussion aus. Für manche Hochschulpräsidenten schien es nur schwer vorstellbar, dass sich dieses Phänomen – der sog. „Gender Pay Gap“ – in ihrer Hochschule ausgebreitet haben könnte. Die zweite Studie des HoF Wittenberg (2019)„Wie auf einem Basar – Berufungsverhandlungen und Gender Pay Gap bei den Leistungsbezügen an Hochschulen in Niedersachsen“. HoF Arbeitsbericht 110 des Instituts für Hochschulforschung. Halle Wittenberg 2019. https://www.hof.uni-halle.de/publikation/wie-auf-einem-basar-berufungsverhandlungen-und-gender-pay-gap-bei-den-leistungsbezuegen-an-hochschulen-in-niedersachsen/ bestätigte die Befunde: insbesondere bei W3-Professorinnen war im Vergleich (über alle Fächer) zu ihren männlichen Kollegen ein Gender Pay Gap von 28,3 % zu verzeichnen. Diese Erkenntnisse intensivierten die Diskussionen in den Hochschulen, und führten – auch aufgrund der weiterführenden Erörterungen im Rahmen der Dialoginitiative – zu einer höheren Transparenz hinsichtlich der Vergabe von Leistungsbezügen in den Hochschulen.

Nun hat sich mittlerweile auch der Deutsche Hochschulverband mittlerweile des Themas „Geschlechterunterschiedliche Vergütung“ angenommen.https://www.hochschulverband.de/positionen/presse/resolutionen/geschlechterunterschiedliche-verguetung-in-der-wissenschaft Recht verwunderlich mutet allerdings seine Empfehlung an:

„Die Länder werden aufgefordert, in ihren Landeshochschulgesetzen als Aufgabe für die Gleichstellungsbeauftragten der Hochschulen explizit eine Hinwirkungspflicht zu verankern, eine Besoldungsgleichheit von männlichen und weiblichen Beschäftigten mit Aufgaben innerhalb und außerhalb von Forschung und Lehre zu erzielen.“

Die intendierte Allokation der Verantwortlichkeit bei den Gleichstellungsbeauftragten entspringt dem Mindset der 80er Jahre. Die mittlerweile gewonnene Erkenntnis „Gleichstellung ist Führungsaufgabe“, also Verantwortung der Hochschulleitungen, scheint noch nicht zum DHV durchgedrungen zu sein.

5) Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Umsetzungsdefizite in der Gleichstellungspolitik an Hochschulen

Es gibt also sehr unterschiedliche Geschwindigkeiten von Erkenntnisprozessen. Deshalb ist auch der vom Club of Rome für die Klimapolitik geprägte Satz „Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsdefizit“ auf die Gleichstellungspolitik an Hochschulen anzuwenden und zu präzisieren.

Zum Thema „Gleichstellung in der Wissenschaft“ insgesamt, insbesondere zum gender bias, zur strukturellen Benachteiligung von Frauen, liegen hinreichend viele und valide wissenschaftliche Studien vor. Gleichwohl gibt es möglicherweise ein Wahrnehmungsdefizit, das schon offenbar wird, wenn man sich die Listen der Teilnehmenden an einschlägigen Veranstaltungen anschaut. Auch dem Wissenschaftsrat ist es trotz intensiver Appelle nicht gelungen, bei seinen Veranstaltungen zum Thema Gleichstellung mehr als 20 % männliche Teilnehmende – wohlgemerkt nur bei der Eröffnung – zu gewinnen.

Deshalb sind Prozesse wie die Dialoginitiative nach wie vor wichtig und unverzichtbar, um nachhaltig gemeinsamJutta Allmendinger: Es geht nur gemeinsam! – Wie wir endlich Geschlechtergerechtigkeit erreichen. Berlin 2021 eine tragfähige Zukunft in den (nicht nur niedersächsischen) Hochschulen zu gestalten, und den notwendigen Kulturwandel auf allen institutionellen und inhaltlichen Ebenen voranzubringen.

6) Gleichstellungspolitik und Geschlechter-/Genderforschung

In besonderer Weise mit der Gleichstellungspolitik verwoben ist die Geschlechter-/Genderforschung.

Seit den 90er Jahren widmen sich Forscher*innen zunehmend diesem interdisziplinären Fachgebiet, das Geschlechterverhältnisse untersucht, um differenziertes Geschlechterwissen und Genderkompetenz zu generieren. Als Instrument der Wissenschaftskritik trägt die Geschlechter-/Genderforschung mit ihren spezifischen Analysemethoden zur Innovation der Wissenschaft bei. In Niedersachsen wurde seit Anfang der 2000er Jahre gezielt die Gründung von entsprechenden Forschungszentren unterstützt. Ziel war es, Ansätze der Geschlechterforschung möglichst in alle Fachgebiete zu diffundieren.Zur Entwicklung vgl. Geschlechterforschung. Bericht und Empfehlungen. Wissenschaftliche Kommission Niedersachsen. Hannover 2013. https://www.wk.niedersachsen.de/taetigkeitsbereiche/forschungs_und_strukturevaluation/themengeleitete_evaluation/evaluationsberichte-137331.html

Bei der Tagung „Gender 2020“ in Bielefeld (2017)https://bukof.de/service/gender2020/ hielt Londa Schiebinger, Professorin in Stanford und seinerzeit auch Gastprofessorin im Rahmen des Maria-Goeppert-Mayer-Programms,Mit dem Maria-Goeppert-Mayer-Programm wurden insgesamt mehr als 100 Gastprofessor*innen an den niedersächsischen Hochschulen gefördert, ebenso wie die Einrichtung regulärer Professuren mit einer (Teil-)Denomination in Genderforschung. https://www.mwk.niedersachsen.de/startseite/hochschulen/gleichstellung/maria_goeppert_mayer_programm/maria-goeppert-mayer-programm-19046.html einen eindrucksvolle Vortrag zum Thema „Gendered Innovations“.Das Projekt „Gendered Innovations“ stellt Analyseinstrumente für Wissenschaftler*innen bereit, um die Kategorien Sex und Gender sowie weitere intersektionale Aspekte zu untersuchen. https://genderedinnovations.stanford.edu/ Vor einem interessierten Publikum von – auch etlichen männlichen – Leitungen von Hochschulen und Forschungseinrichtungen – legte sie dar, dass die Einbeziehung der Analysekategorie Gender in die Forschung eine Steigerung der Qualität und des Innovationspotentials von Forschung erwarten lässt. Über die „forschungsorientierten Gleichstellungsstandards“ hinaus, die hauptsächlich die Repräsentanz von Frauen sowie die Veränderung von Strukturen und Kulturen adressierten, sollten – so die Forderungen in der Konferenz – auch „genderorientierte Forschungsstandards“ entwickelt werden, um Gender im Sinne einer Analysekategorie als ein Element „guter wissenschaftlicher Praxis“ zu verankern.

Dies hat in der DFG die intensive Diskussion um die Einbeziehung von Aspekten der Genderforschung nachhaltig befördert. In ihren „Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis“ vom Juli 2019 hat die DFG nunmehr die Anforderung aufgenommen:

„Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler prüfen, ob und, wenn ja, inwiefern Geschlecht und Vielfältigkeit für das Forschungsvorhaben (mit Blick auf die Methoden, das Arbeitsprogramm, die Ziele etc.) bedeutsam sein können.“Vgl. Leitlinie 9: Forschungsdesign.https://wissenschaftliche-integritaet.de/kodex/

7) Fazit und Ausblick

Soweit der Blick zurück, auf 30 Jahre Gleichstellungspolitik in Niedersachsen. Der Blick nach vorne verheißt weiterhin viel Arbeit, um die Gleichstellung von Frauen im Hochschul- und Wissenschaftssystem zu verwirklichen. Es bedarf hartnäckiger Beharrlichkeit und eines ausgeprägten Optimismus,Optimismus ist für Frauenbeauftragte sowohl Pflicht wie Kür, Optimismus gepaart mit einem gehörigen Schuss Verfassungspatriotismus.“ So Jutta Limbach im Jahr 2000 bei einem Vortrag vor den Gleichstellungsbeauftragten der obersten Bundesbehörden. um immer wieder neue Impulse für transformierende Wellen zu setzen.

Optimistisch habe ich vor 12 Jahren eine Vision für das Jahr 2020 entwickelt,Hochschule als Ort zum Leben. In: Hochschule entwickeln. Festschrift für Christa Cremer-Renz. Hrsg. Anne Dudeck, Bettina Janssen-Schulz. Nomos 2011. die mir in Teilen immer noch aktuell erscheint. Zwar ist manches erreicht, doch etliches gilt es noch anzugehen. Vielleicht sollte die Vision auf 2030 prolongiert werden?

  • Hochschulen sind inklusive Orte: Im Sinne einer zukunftsfähigen Entwicklung öffnen sie sich für Menschen aus bildungsfernen Schichten, Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen weiblichen Geschlechts, ältere Menschen, Menschen mit Familienverantwortung (Erziehung und Pflege). Hochschulen arbeiten aktiv auf die Inklusion hin, d. h. sie ändern sich (ihre Strukturen und ihr Profil), um mehr Menschen aus den vorgenannten Gruppen zu inkludieren/integrieren.

  • Hochschulen sensibilisieren ihre Mitglieder für (Gender und) Diversityaspekte (→Studienberatung; →Berufungsverfahren; →Hochschuldidaktik; →Forschung).

  • Hochschulen sind Orte, in denen Menschen mit Familienverantwortung arbeiten können und wollen: Sowohl für Studierende als auch für (wissenschaftliche) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden flexible Angebote zur Kinderbetreuung insbesondere in Notfällen angeboten. Gremiensitzungen berücksichtigen in ihrer Terminierung die Zeittakte von Familien. Die (reflexhafte) Verbindung von Frauen und Familienfreundlichkeit ist aufgelöst. Väter können sich „gefahrlos“ für Job und Ansehen zu ihrer Familienverantwortung bekennen.

  • Hochschulen haben das Bewusstsein einer Verantwortungsgemeinschaft entwickelt: nicht der einzelne Forscher steht im Mittelpunkt, sondern die Aufgabe, welche die Hochschule als Ganze als Teil der Gesellschaft zu erbringen hat – für die Ausbildung der Studierenden, die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die notwendigen Freiräume für die Erbringung exzellenter Forschungsleistungen inklusive Drittmitteleinwerbung.

  • Frauen und Männer übernehmen in Führungspositionen (Professuren, Hochschulleitung) sowie den Gremien gleichermaßen Verantwortung.

  • Hochschulen haben das Potential weiblicher Studierender für die MINT-Studiengänge erschlossen, indem sie Strukturen, Lehrinhalte sowie Lehr‑ und Lernformen verändert haben. Dies hat auch die Abbrecherquote insgesamt gesenkt.

  • Hochschulen haben mehr Männer für die auf ein Lehramt qualifizierenden Studiengänge sowie im Bereich der Frühpädagogik gewinnen können, durch zielgruppenspezifische Informationsangebote sowie Mentoringprogramme, in denen männliche Rollenvorbilder, die bereits im Feld tätig sind, einbezogen sind.

  • Hochschulen achten darauf, dass sie ihre (weiblichen) Studierenden nicht „verlieren“, insbesondere in den Studiengängen, in denen sie deutlich unterrepräsentiert sind, sowie an den Übergängen vom BA zum MA.

  • Hochschulen achten darauf, dass sie das von ihnen generierte Qualifikationspotential auch weiterführen, d. h. hervorragende Absolventinnen und Absolventen gleichermaßen zu weiterer Qualifikation (Promotion) motivieren („leaky pipeline“ stopfen; return on investment sichern).

  • Hochschulen wenden qualitativ differenzierte Leistungskriterien an (Quantitäten wie Anzahl der Publikationen sind nicht automatisches Indiz für Qualität; Umfang zeitlicher Präsenz nicht gleichzusetzen mit erbrachter Leistung). Bewertungsprozesse sind transparent und nachvollziehbar gestaltet, ohne gender, age or race bias.

  • Genderorientierte Forschungsstandards setzen die Berücksichtigung von Genderaspekten in der Forschung als Teil der „guten wissenschaftlichen Praxis“ voraus. Gleiches gilt für altersdifferenzierte bzw. kulturell differente Muster.

  • Im Rahmen des gender budgeting machen Hochschulen die Mittelverteilung transparent, z. B. durch Vergleich der Kosten- und Leistungsstrukturen geistes- und sozialwissenschaftlicher vs. natur- und technikwissenschaftlicher Fächer in Korrelation zu den Frauen- bzw. Männeranteilen unter Studierenden und Lehrenden.

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