Geschlechter(un)gleichheit und patriarchale Strukturen im islamischen Familienrecht

29.02.2024  — Von Katrin Seidel. Quelle: Verlag Dashöfer GmbH

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Katrin Seidel: »Geschlechter(un)gleichheit und patriarchale Strukturen im islamischen Familienrecht« (In: Rechtshandbuch für Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte, hrsg. von Dr. Sabine BerghahnUlrike Schultz, Auflage 89, Hamburg: Verlag Dashöfer 2024, Abschn. 1.3)

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Im Fokus dieses Beitrages stehen islamrechtliche Verständnisse von Familie und Ehe und die Konstruktion geschlechterspezifischer Rechte und Pflichten. Dies ist deshalb bedeutend, weil sich etwa zwei von acht Milliarden Menschen zum Islam bekennen und das islamische Recht weltweit eine der einflussreichen Rechtsordnungen ist. In fast allen Ländern im Mittleren Osten, Asien und Afrika mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit (außer der Türkei) gilt islamisches Familienrecht heute formell als Teil des staatlichen Rechts. Auch in den Ländern mit muslimischen Minderheiten genießen das islamische Familienrecht und seine Gerichtsbarkeiten vielerorts staatliche bzw. verfassungsrechtliche Anerkennung (Seidel 2013). In Deutschland ist der Islam nach dem Christentum die Religion mit den meisten Anhänger:innen. Die muslimische Bevölkerung in Deutschland unterscheidet sich hinsichtlich ihrer Glaubensrichtungen, regionalen und sozioökonomischen Hintergründe sowie weltanschaulichen Verankerungen (Toprak 2019). Insofern beeinflusst das islamische Recht das Leben der etwa fünf Millionen Muslime in Deutschland in unterschiedlichem Maße.

Im Hinblick auf entstehende Spannungen zwischen staatlichem und islamischem Recht betont der deutsche Rechts- und Islamwissenschaftler Matthias Rohe (2018):

Ein unter Nichtmuslimen, aber auch manchen Muslimen verbreitetes enges Verständnis beschränkt sie [die sharī’aDie Begriffe sharī’a und islamisches Recht werden häufig gleichgesetzt, müssen jedoch unterschieden werden. Ein weites Verständnis des Begriffes sharī‘a (wörtl. „der (von Gott) gebahnte Weg“, „der Pfad zur Tränke“) umfasst die gesamten religiösen und rechtlichen Normen, Normfindungs-, Interpretations- und Auslegungsmechanismen des Islam (vgl. Rohe 2008: 9).] auf Rechtsbereiche wie Familien- und Erbrecht, Strafrecht und Staatsrecht. Hier liegen denn auch die möglichen Konfliktbereiche, soweit nach traditionellen, zum Teil bis heute fortgeschriebenen Interpretationen eine Ungleichbehandlung der Geschlechter und Religionen sowie eine unter maßgeblichem Einfluss von Religionsgelehrten stehende Staatsorganisation vorgeschrieben wird.

Im Allgemeinen umfasst das islamische Recht, wie jede Rechtsordnung, eine Vielzahl von Rechtsgrundsätzen, die jeweils an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit entstanden sind. Die Lehren der von dem Propheten Mohammed zwischen den Jahren 610 und 632 auf der arabischen Peninsula in Mekka und Medina begründeten Religion des Islam wurden nach seinem Tod im heiligen Buch des Islam, dem Koran (qur’ān), und als Prophetentraditionen (sunna) niedergeschrieben. Der Koran und die Sunna des Propheten gelten weitgehend unumstritten als die obersten Quellen des islamischen Rechts. Das islamische Recht ist weder einheitlich noch kohärent, sondern spiegelt, wie im Folgenden gezeigt wird, eine Vielzahl von Interpretationen seiner Quellen wider. Dabei handelt es sich um verhandelbare und wandelbare soziokulturelle und rechtliche Vorstellungen, die als Reaktion auf die sozialen Realitäten und die Autoritätsstrukturen in Gesellschaft und Familie entstanden sind. In diesem Sinne wird das islamische Recht hier unter dem Blickwinkel sozialrechtlicher Reformbemühungen diskutiert, insbesondere im Hinblick auf die in dieser Rechtsordnung konstruierten Geschlechterbeziehungen.

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