Inwieweit bleibt bei lang andauernder Arbeitsunfähigkeit der gesetzliche Mindesturlaubsanspruch für jedes Jahr erhalten? – Vorlagebeschluss des LAG Hamm vom 15.04.2010.
Nach der aktuellen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und des Bundesarbeitsgerichts verfallen gesetzliche Urlaubs- wie auch Urlaubsabgeltungsansprüche nicht mehr, wenn der Arbeitnehmer aufgrund von Krankheit seinen Anspruch auf Erholungsurlaub nicht ausüben konnte. Dies gilt nach einer neuen Entscheidung des BAG vom 23.03.2010 auch für den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Mitarbeiter gemäß § 125 SGB IX.
In einem aktuellen Verfahren hatte sich das LAG Hamm nun mit der Frage zu befassen, ob bei einer über Jahre hinweg andauernden Arbeitsunfähigkeit die Ansammlung von Urlaubsansprüchen möglich ist. Das LAG Hamm äußerte Bedenken daran, ob der Erholungszweck des Jahresurlaubs im Falle einer langjährigen Erkrankung eines Arbeitnehmers tatsächlich die Kumulation der Urlaubsansprüche erfordere. Das Landesarbeitsgericht regt insoweit eine Befristung des gesetzlichen Urlaubsanspruchs an, wonach der Jahresurlaub spätestens 18 Monate nach Ablauf des Jahres, für das der Urlaubsanspruch erworben wurde, zu nehmen ist.
Eine Entscheidung fällte das Landesarbeitsgericht allerdings nicht, sondern setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, inwieweit gesetzliche Mindesturlaubsansprüche bei lang andauernder Arbeitsunfähigkeit angesammelt werden.
Einleitung
Die Rechtslage im Hinblick auf die Behandlung längerfristig erkrankter Arbeitnehmer hat sich im Verlauf der letzten anderthalb Jahre erheblich verändert.
Der volle Urlaubsanspruch entsteht grundsätzlich auch dann, wenn der Arbeitnehmer im Urlaubsjahr krankheitsbedingt nur geringfügige oder überhaupt keine Arbeitsleistung erbringt. Kann der Urlaub aufgrund der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit nicht genommen werden, führt dies nach § 7 Abs. 3 BUrlG zur Übertragung des Urlaubsanspruchs in das Folgejahr. Nach bisheriger Rechtslage erlosch der Urlaubsanspruch allerdings ersatzlos, wenn sich die Krankheit über den Übertragungszeitraum des § 7 Abs. 3 BUrlG, d. h. über den 31. März des Folgejahres hinaus fortsetzte.
Diese Rechtslage hat durch das „Schultz-Hoff“ Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 20.01.2009 (C-350/06) eine tiefgreifende Änderung erfahren. In dieser Entscheidung hat der EuGH deutlich gemacht, dass das Erlöschen des Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsanspruches nach § 7 Abs. 3 BUrlG mit der Europäischen Arbeitszeitrichtlinie RL 2003/88/EG unvereinbar ist. Hatte der Arbeitnehmer wegen einer Erkrankung nicht die Möglichkeit, seinen Urlaub zu nehmen, stelle die Regelung des § 7 Abs. 3 BUrlG eine unzulässige Beschränkung des durch die Richtlinie verliehenen Urlaubsanspruchs dar. Wenn die Arbeitsunfähigkeit bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses andauere, müsse zudem eine finanzielle Vergütung zum Ausgleich des bezahlten Jahresurlaubs gezahlt werden.
Das Bundesarbeitsgericht hat sich dieser Entscheidung des EuGH angeschlossen und unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung entschieden, dass gesetzliche Urlaubs- wie auch Urlaubsabgeltungsansprüche nicht verfallen, wenn der Arbeitnehmer während des Urlaubsjahres bzw. des Übertragungszeitraums oder eines Teils davon aufgrund von Krankheit seinen Anspruch auf Erholungsurlaub nicht ausüben konnte (9 AZR 983/07). Das BAG hat diese Rechtsprechung in seinem Urteil vom 23. März 2010 (9 AZR 128/09) darüber hinaus auch auf den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Mitarbeiter gemäß § 125 SGB IX übertragen.
Grundsätzlich verfallen Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüche von dauerhaft erkrankten Mitarbeitern damit in Höhe des gesetzlichen Urlaubs bzw. des Schwerbehindertenzusatzurlaubs nicht mehr. Darüber hinausgehende arbeitsvertragliche oder tarifliche Ansprüche verfallen nur bei ausdrücklicher Regelung im Arbeits- bzw. Tarifvertrag. Vertrauensschutz gewährt das BAG lediglich für gesetzliche Urlaubsabgeltungsansprüche, die im Zeitpunkt des Bekanntwerdens des damaligen Vorabentscheidungsersuchens des LAG Düsseldorf vom 02.08.2006 nach alter Rechtsprechung bereits verfallen waren.
Vorlagebeschluss des LAG Hamm – Begrenzung der Urlaubs-/Urlaubsabgeltungsansprüche?
Die Entscheidungen des EuGH und des BAG werfen aus Arbeitgebersicht die Frage auf, inwieweit eine jahrelange Anhäufung von Mindesturlaubsansprüchen möglich ist. Denn Urlaub- und Urlaubsabgeltungsansprüche unterliegen nach derzeitiger Rechtslage nicht der Verjährung. Arbeitsvertragliche Ausschlussfristen sind wirkungslos, da sie eine nach § 13 Abs. 1 BUrlG unzulässige Abweichung von den Vorschriften des Bundesurlaubsgesetzes darstellen. Gleiches gilt grundsätzlich auch für Ausschlussfristen in Betriebsvereinbarungen und Tarifverträgen. Lediglich die Übertragung von über den gesetzlichen Mindesturlaub hinausgehenden Ansprüchen kann arbeitsvertraglich vorgesehen werden.
Insoweit hat das LAG Hamm nun einen Versuch zur Begrenzung der Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüche unternommen und dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob langjährig arbeitsunfähige Arbeitnehmer ihre gesetzlichen Urlaubsansprüche über Jahre hinweg ansammeln können oder ob diese zeitlich befristet sind (16 Sa 1176/09).
Dem Vorlagebeschluss des LAG Hamm lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Kläger war seit 1964 bei der beklagten Arbeitgeberin als Schlosser beschäftigt. Seit Januar 2001 war er krankheitsbedingt arbeitsunfähig und bezog ab dem 01.10.2003 jeweils befristet eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Zum 31.08.2008 beendeten die Parteien das Arbeitsverhältnis durch Aufhebungsvertrag. Im Anschluss an die EuGH-Entscheidung vom 20.01.2009 verlangte der Arbeitnehmer von der Arbeitgeberin die Abgeltung seines Urlaubs für die die Jahre 2006 bis 2008 in Höhe von jeweils 35 Arbeitstagen. Das Arbeitsgericht sprach dem Kläger einen Anspruch auf Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubsanspruchs von insgesamt 60 Tagen und des Schwerbehindertenurlaubs von 15 Tagen zu.
Auf die hiergegen gerichtete Berufung setzte das LAG Hamm das Verfahren aus und legte dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, inwieweit gesetzliche Mindesturlaubsansprüche bei lang andauernder Arbeitsunfähigkeit kumuliert werden.
Das Gericht begründet seinen Vorlagebeschluss vom 15.04.2010 damit, dass der EuGH in der „Schultz-Hoff“ Entscheidung lediglich über die Urlaubsansprüche für das laufende und das Vorjahr zu entscheiden hatte. Daraus ergebe sich nicht notwendig, dass auch eine Kumulation von Urlaubsansprüchen für mehrere Jahre geboten sei.
Darüber hinaus ist es nach Auffassung des LAG Hamm nicht ausgeschlossen, dass die Europäische Arbeitszeitrichtlinie einer Auslegung zugänglich sei, wonach der Anspruch auf einen bezahlten Jahresurlaub zeitlich befristet ist. Das LAG bezieht sich insoweit auf das IAO-Übereinkommen Nr. 132, wonach der ununterbrochene Teil des bezahlten Jahresurlaubs spätestens ein Jahr und der übrige Teil des bezahlten Jahresurlaubs spätestens 18 Monate nach Ablauf des Jahres, für das der Urlaubsanspruch erworben wurde, erlischt.
Auswirkungen auf die Praxis
Für die Praxis gilt die Entscheidung des EuGH über den Vorlagebeschluss abzuwarten. Inwieweit der EuGH der Auffassung des LAG Hamm folgen wird, ist derzeit nicht abzusehen. Der EuGH hatte allerdings in seiner Entscheidung vom 20.01.2009 auf die Bedeutung des Übereinkommens für die Auslegung der Europäischen Arbeitszeitrichtlinie hingewiesen. Darüber hinaus spricht auch der Zweck des Erholungsurlaubs für eine zeitliche Begrenzung des Urlaubsanspruchs. Dieser liegt nach Auffassung des EuGH darin, einen wirksamen Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer sicherzustellen. Ob dieser Zweck eine Kumulierung von Urlaubsansprüchen über Jahre hinweg erfordert, darf bezweifelt werden.
Bis zur Klärung dieser Rechtsfrage gilt für die betriebliche Praxis aber weiterhin die Empfehlung, den sichersten Weg einzuschlagen und bei neu abgeschlossenen Arbeitsverträgen eine Regelung aufzunehmen, die ein Erlöschen der über den gesetzlichen Mindesturlaub hinausgehenden Urlaubsansprüche vorsieht. Darüber hinaus sollte bei langfristiger Erkrankung eines Mitarbeiters eher als bislang eine einvernehmliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses bzw. eine krankheitsbedingte Kündigung in Erwägung gezogen werden.
Quelle: Sven Heide (Taylor Wessing Hamburg)