Frauen, die Geschichte machen: Marie Juchacz

05.06.2019  — Markus Hiersche.  Quelle: Verlag Dashöfer GmbH.

Ein geflügelter Ausspruch besagt: „Männer machen Geschichte“. Dass das zu kurz gegriffen ist, zeigt unsere Reihe „Frauen, die Geschichte machen“. Erleben Sie Frauen, die den Mut hatten, für Ihre Überzeugungen einzutreten – und so die Welt veränderten. Heute: Marie Juchacz (1879–1956).

Meine Herren und Damen!“ – weiter kam die Sozialdemokratin Marie Juchacz nicht. Allgemeine Heiterkeit der überwiegend männlichen Nationalversammlungsabgeordneten unterbrach im Februar 1919 die historische Rede der ersten Frau, die jemals vor einem demokratisch gewählten deutschen Parlament sprach. Zu fremd klang die selbstbewusste Umkehr der Geschlechter in der höflichen Anrede den männlichen Zuhörern. Doch die Stoßrichtung Juchaczs wurde damit bereits deutlich: Ihr ging es um die Sache der Frau. Als sich das Lachen gelegt hatte, fuhr sie fort, die neuen Errungenschaften – allem voran das Frauenwahlrecht – einzuordnen und weitere emanzipatorische Forderungen zu stellen:

"Ich möchte hier feststellen ( ... ): Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist. ( … ) Und ich betrachte es als eine Selbstverständlichkeit, dass ( … ) die Frau als gleichberechtigte und freie Staatsbürgerin neben dem Manne stehen wird."

Einsatz für mehr Gleichstellung und Gerechtigkeit

Die volle Gleichstellung von Frau und Mann war Juchaczs Ziel. Während der Beratungen der Nationalversammlung setzte sie sich unter anderem vehement dafür ein, die Gleichberechtigung der Geschlechter über die Formulierung „Männer und Frauen haben die gleichen staatsbürgerlichen Rechte“ in der Verfassung zu verankern – leider erfolglos. Artikel 109 der letztlich verabschiedeten Weimarer Reichsverfassung schränkte das Gleichheitsgebot durch einen Hinweis auf „grundsätzlich“ gleiche Rechte jedoch ein. Volle Gleichstellung bedeutete dies nicht.

Doch Juchacz kämpfte weiter für die Belange von Frauen und Schwachen: Von 1920 bis 1933 setzte sie sich als sozialdemokratische Abgeordnete gerade in der Sozialpolitik, die sie als politisches Hauptbetätigungsfeld für Frauen ausmachte, für sie ein. So stritt sie erfolgreich für den damals hochumstrittenen Artikel 121, der die Gesetzgebung verpflichtete, unehelichen Kindern „die gleichen Bedingungen für ihre leibliche, seelische und gesellschaftliche Entwicklung zu schaffen wie den ehelichen Kindern“. Ihrer Zeit voraus plädierte sie außerdem für eine Reform des Abtreibungsrechts und forderte – erfolglos – die Straffreiheit für Schwangerschaftsabbrüche im ersten Trimester der Schwangerschaft. Empathie für betroffene Frauen versuchte sie in einer Reichstagsrede 1926 zu gewinnen, die aus Verzweiflung, Perspektivlosigkeit und Verantwortungsgefühl ihr Kind abtrieben. Ihr größtes Verdienst ist aber vermutlich die Gründung der bis heute aktiven „Arbeiterwohlfahrt“ (AWO), deren Vorsitzende sie bis 1933 blieb. Unermüdlich setzte sie sich in dieser Funktion für die Schwachen und Zurückgelassenen der Gesellschaft ein.

Ein Kampf für ein selbstbestimmtes Leben

Dass Juchacz, geborene Gohlke, einmal die Politik des Deutschen Reiches mitbestimmen würde, war keineswegs selbstverständlich. Denn als Juchacz 1879 als Tochter einer Zimmermann-Familie geboren wurde, war es Frauen beinahe unmöglich politisch tätig zu sein: Das preußische Vereinsrecht von 1850 untersagte Frauen die Betätigung in politischen Vereinen, die Verfassung des Deutschen Kaiserreichs beschränkte das aktive und passive Wahlrecht auf Männer, die Bildungschancen für Mädchen waren eher gering. Eine der wenigen Möglichkeiten für Frauen, sich zu schulen und zu engagieren waren Bildungsvereine, in denen verdeckt auch politisch diskutiert werden konnte.

Juchacz selbst erfuhr diese Ungleichbehandlung am eigenen Leib: Als ihr Vater in materielle Schwierigkeiten geriet, musste sie sich bereits mit 14 Jahren ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie arbeitete als Hausangestellte, Fabrikarbeiterin, Krankenwärterin in einer Nervenanstalt und schließlich als Näherin in der Schneiderwerkstatt von Bernd Juchacz, den sie 1903 heiratete. Die Ehe verlief jedoch unglücklich, das Paar ließ sich bereits 1905 scheiden. Mit zwei Kindern und ihrer Schwester Elisabeth Röhl im Gepäck zog sie nach Berlin, um dort weiterhin in Heimarbeit als Näherin zu arbeiten.

In Berlin nahm dann auch ihre politische Karriere langsam Fahrt auf. Schon früh von einem ihrer älteren Brüder für die SPD begeistert, trat sie zusammen mit ihrer Schwester 1907 einem sozialdemokratisch organisierten Frauen- und Mädchenbildungsverein bei. Erste Ämter und Funktionen winkten. Der Durchbruch kam 1908, als das preußische Vereinsgesetz fiel und durch das Reichvereinsgesetz ersetz wurde. Dieses ermöglichte Frauen erstmals die politische Betätigung in Vereinen und Parteien: Bereits im selben Jahr traten die beiden Schwestern in die SPD ein und machten innerhalb des Parteiapparats Karriere: 1913 wurde Juchacz Frauensekretärin des SPD-Bezirks Obere Rheinprovinz in Köln, 1917 wurde sie in den Parteivorstand berufen und wurde zur Redaktionsleiterin der SPD-Frauenzeitung „Die Gleichheit“ bestellt. 1919 gelang ihr dann der Einzug in die Nationalversammlung und 1920 in den Reichstag, in dem sie bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten Abgeordnete blieb.

Flucht und Wiederkehr

In einer ihrer letzten Reden im Reichstag stellte sie sich 1932 mutig gegen Hitler und Co. und hielt den Nationalsozialisten den Spiegel vor:

„Die Frauen ... wollen keinen Bürgerkrieg, wollen keinen Völkerkrieg… Die Frauen ... durchschauen die Hohlheit einer Politik, die sich als besonders männlich gibt, obwohl sie nur von Kurzsichtigkeit, Eitelkeit und Renommiersucht diktiert ist. Dieser Politik, der nationalsozialistischen Politik, mit allen Kräften entgegenzutreten, zwingt uns unsere Liebe zu unserem Volke …”

Doch jede Warnung ging ins Leere. Als Hitler 1933 zum Reichskanzler wurde, musste Juchacz fliehen. Über das Saargebiet und Frankreich verschlug es sie letztlich in die USA, wo sie die „Arbeiterwohlfahrt USA – Hilfe für die Opfer des Nationalsozialismus“ gründete. Nach dem Krieg kehrte sie 1947 zurück nach Westdeutschland und übernahm die Funktion als Beraterin der AWO. 1956 verstarb Juchaczs im Alter von 76 Jahren in Bonn.

Quellen und Hintergründe:





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